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Pflegekräfte leben mit dem Widerspruch zwischen hohen pflegefachlichen Ansprüchen und den ökonomischen Zwängen in ihrem Berufsalltag. Es ist wichtig, dass sich die Pflegekräfte diesen Widerspruch klarmachen und sich damit auseinandersetzen.

Pflegewissenschaftlerin Prof. Karin Kersting befasst sich seit über 20 Jahren im Rahmen ihrer Forschungsarbeiten mit diesem Thema. 

Sie konnte nachweisen, dass die Pflegenden einen Schutzmechanismus, das sogenannte Coolout entwickelt haben, um mit dieser Situation umzugehen. Coolout, also das „Abkühlen“ bedeutet jedoch nicht, dass die Pflegekräfte gegenüber den Bedürfnissen ihrer Patienten gleichgültig werden. Sondern es beschreibt ihren Umgang mit dem Widerspruch, den sie in der Praxis erleben. Sie wollen patientenorientiert pflegen und den hohen pflegefachlichen Anspruch, den sie auch in ihrer Ausbildung verinnerlichen, gerecht werden. Dennoch werden sie zu schnellem Arbeiten angehalten oder sogar gemahnt, wenn sie sich einzelnen Patienten zu lange widmen. 

Es gibt natürlich Pflegende, die diesen Widerspruch nicht so erleben, und davon ausgehen, dass das, was gefordert wird, auch umgesetzt wird. Andere leiden darunter, dass sie sich zu wenig um die Patienten kümmern können. Sie sehen sich aber nicht dazu in der Lage, dass ändern zu können. Sie erleben sich als Opfer des Systems, in dem sie arbeiten. Wieder andere sind bestrebt, die Situation zu verbessern und versuchen zum Beispiel, sich besser zu organisieren oder Abläufe zu verändern. Eine andere Gruppe von Pflegenden erkennt, dass der Widerspruch zwischen Patientenorientierung und ökonomischen Zwängen unauflösbar ist, solange unser Gesundheitssystem derart strukturiert ist. 

Um die Pflegekräfte zu entlasten und zu schützen, ist es deshalb wichtig, dass dieser Widerspruch reflektiert wird. Seit 2019 ist dieses Thema ein Bildungsziel in der Ausbildung. Nur so kann verhindert werden, dass Pflegekräfte die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die im Berufsalltag auf sie zukommt, als individuelles Versagen erleben. Deshalb ist es wichtig, dass die Pflegekräfte auch in der Praxis Verständnis für ihre Situation erfahren und die Gelegenheit haben, nicht zuletzt im Rahmen einer Supervision, sich mit ihren Kollegen darüber auszutauschen. 

Das schützt die psychische Gesundheit der Pflegekräfte und steigert ihre Resilienz gegenüber Dingen wie Personalmangel, überbordender Bürokratie oder nicht ausreichenden Budgets. Es stabilisiert aber somit letztendlich auch wieder das bestehende System. Deshalb muss es insgesamt darum gehen, die Mitgestaltungsmöglichkeiten und Einflussnahme der Pflegenden in ihrem Berufsumfeld zu erhöhen. Dies ersetzt jedoch nicht die Anforderung an die Politik, grundlegende Verbesserungen im Gesundheitssystem herbeizuführen.